Schwer vermittelbar

Über die Bundesrepublik von 1954 bis 1974 und danach gibt es die großen Geschichten – das Wunder von Bern und das der Wirtschaft, die Geschichte einer Wiederaufrüstung und ihre konformen, normfamiliengerechten Protagonisten. Und es gibt die anderen Erzählungen, die gerne hinten runter fallen, wenn man tagsüber an Deutschland denkt. Storys über die Zukurzgekommenen und Gehänselten in der Schule und der Schule des Lebens, über die Unterbeachteten und Weggesperrten: die petits récits.

Solche kleinen Geschichten schreibt Ralf Schwob; die Gesellschaft Hessischer Literaturfreunde hat jetzt eine Auswahl seiner Kurzprosa veröffentlicht. Zufällig oder nicht kommen zwei der Texte auf deutsche Fußball-Weltmeistersonntage zu sprechen: 1974 durch die Wahrnehmung eines zunehmend betrunkenen Achtjährigen und 1954 mit Werner Kohlmeyer, einem Verteidiger aus Kaiserslautern, der durch zwei Rettungsaktionen auf der Torlinie des Berner Fußballplatzes den Titel überhaupt erst ins Land holte, ehe auch er der Trunksucht verfällt. „Endspiel“ und „Weltmeister, Hintereingang“, so ihre Titel, sind Köder, auf die eine fußballsozialisierte Leserschaft beißt.

Fußball ist aber nur ein Haken, der an Schwobs ausgeworfener Schnur in den Teich einer generational erlebten jüngeren Vergangenheit fällt.

Die anderthalb Dutzend anderen Erzählungen zeigen ebenfalls, dass Schwob die Kunst von „sprachlicher Ökonomie und Genauigkeit“ beherrscht, die er im Vorwort als Standard setzt (S. 9). In den „Ersten Schritten“, wie er die vordere Hälfte der Storys überschreibt, wird durch das Prisma heranwachsender Figuren erzählt, wie es ist und sich anfühlt, wenn man „als Clown, als Maskottchen oder als Letzter, der beim Sport in die Mannschaft gewählt wurde“ zurechtkommen muss mit allem, was einem zum Outsider macht. Wortgleich führt Schwob zweimal an (S. 46 und 66), was die Wissenschaft ‚sozioökonomischen Hintergrund‘ nennen würde, und was aus Schülerfiguren runde Protagonisten macht. Es sind fast immer pubertierende Jungen, die sich abrackern an noch pubertierenderen Halbstarken oder einem prekären Elternhaus, für das weder die Altvorderen noch die Jungs groß was können. Mit feiner Klinge legen die Storys die Verwerfungen bloß, die sich in zehn Meter Höhe auf einem Schwimmbadsprungbrett oder am wochenendigen Vatertag abspielen, wenn der spielsüchtige Papa alles verzockt, vom geplanten Stadionbesuch bis zum Urvertrauen des Sohns. Meistens bleiben sie nicht trostlos, immerhin, weil es im feinen psychologischen Adoleszenzgespinst dann doch eine Nadja oder Jenny gibt, die Reife beweist als tatkräftige Jungen-Versteherin.

Erste Schritte sind das alles keine, was die Kunstfertigkeit von Ralf Schwob angeht. In den besten Momenten blitzen Bilder auf, in die man sich versenken kann, weil sie Atmosphären und Gestimmtheiten der Figuren auf den Punkt bringen. Nie wird es zu viel des Guten oder manieriert, und trotzdem hat es die Kraft frischer Metaphern, wenn bei einem Unfall die Welt in viele kleine Teile zerfällt und „von der Windschutzscheibe perlt. Autoglas splittert nicht, es hängt vielmehr in unsichtbaren Fäden in den Baumkronen vor dem Eierschalenhimmel und zerbirst nur allmählich in kleinen und großen Kontinenten auf dem Kopfsteinpflaster“ (S. 38). Auch die Architektur der Geschichten – der Spannungsbogen samt Dénouement – sitzt zumeist.

Nicht alle Storys des ersten Teils sind fokalisiert durch junge Figuren, so wie nicht alle Erzählungen des zweiten Teils („Letzte Wege“) geschildert werden aus der Sicht von denen, die ihre letzte Wege gehen. „Ehrenfels“ heißt eine Story von 2006, die man mit dementem Leserblick besonders gut auskosten kann, weil bei dem, was gerade in der erzählten Zeit dargestellt wurde, im Jetzt der Erzählzeit schon wieder alles vergessen ist: die Wahrnehmung der lebenserfahrenen Alt- und Ältergewordenen. Umgekehrt hat in Teil 2 ein Zivildienstleistender die Perspektive inne mit seinem Rückblick auf die Erfahrungen in der von der Bundesrepublik der 1980er Jahre aufbefohlenen Altenpflege. Auch hier sind die Bilder – und ist die Schreibweise – unprätentiös, aber einfach gut. Die Kleinkinder sind „wirtschaftswunderdick“ auf den stibitzten Fotos der alten Patienten, die ihre guten alten Zeiten festhalten, während sie selbst, vom namenlosen Zivi betreut, im gnadenlos fortschreitenden Fluss der Zeit altern: „ihre Unterarme fühlen sich an wie gekochte Hühnerbeine“ (S. 85).

In lesekulturindustriell durchgestylten und zudem pandemisch aufgerauten Zeiten ist Erste Schritte, letzte Wege mit seinem leisen Duktus, auf den man sich einzuhören bereit sein muss, vielleicht ‚schwer vermittelbar‘, wie eine Story über einen Regalauffüller im Supermarkt titelt. Das muss man kaufen, dann wird man belohnt. Den fetzigen Serviervorschlägen für „Doseneintöpfe, Markklößchensuppe, Königsbergerklöpse, Mais, Erbsen und Karotten“ (S. 122) setzt Ralf Schob kein famos eingekochtes literarisches Zartgemüse entgegen, sondern frische Bilder- und Schreib-Ware.

Bruno Arich-Gerz

Ralf Schwob: Erste Schritte, letzte Wege. Erzählungen, Justus von Liebig Verlag. Darmstadt 2020
ISBN 978-3-87390-439-2. 14,80 Euro

Link zur Originalseite: http://textem.de/

 

Tage und Nächte am Rhein, eine Frau erzählt von einem Mann, der versucht, das Licht zu fotografieren, jemand fehlt …

 

 

https://www.danieladietz.de/2021/05/29/episode-29-septemberlicht-von-ralf-schwob/?fbclid=IwAR2VHeJByCoae6lRxyFTfn5dRYP6QFy7Gb6lPzvw1zcTJrMhvAnO4VapflE