Dieter Stiewi & Ralf Schwob 08.12.2023

Eine tolle ,  atmosphärische und entspannte Doppel – Krimi – Lesung zum bundesweiten Krimitag erlebten am Freitag rund 25 Krimibegeisterte im Jugendhaus WoGo  ” United ”  in Goddelau .  In der gemeinsam vom Kulturbüro der Büchnerstadt Riedstadt und dem StRiedKULT – Klub – Team organisierten Veranstaltung lasen der aus Aachen stammende und heute in Offenbach lebende Dieter Stiewi und der aus Groß – Gerau stammende Ralf Schwob aus ihren jeweils regionalen Krimis und entführten das Publikum in zwei spannende Geschichten .  An diesem nebligen Abend ,  der Feuerkorb liefert am Eingang stimmungsvolles Licht ,  Geknister und Geruch ,  machen es sich die Gäste auf gemütlichen Couches ,  Sesseln und Stühlen an Bistrotischen bzw. Barhockern an Stehtischen gemütlich ,  versorgen sich mit Glüh –  und heißem Apfelwein und tauchen in die Atmosphäre der mit schwarzem Tuch ,  Krimischriftzug ,  Totenköpfen sowie Stehlampe ,  Schaukelstuhl und Krimibücherregal dekorierten Bühne ein .

Los geht es pünktlich um 19:30  Uhr mit Ralf Schwob und seinem aus dem Jahr 2020 stammenden Roman  ” Tod Im Gleisdreieck ”  ( Mainbook ) .  Ralf Schwob entführt dabei die Zuhörer*innen ,  vorgetragen mit ruhiger und entspannter Stimme ,  sowohl ins Groß – Gerau der 80er Jahre mit Siedlerdisco ,  Songs von ABC ,  ZZ Top ,  Foreigner oder Queen ,  Liebeskummer ,  Freundschaft ,  Alkohol und einem tragischen Zwischenfall als auch ins Frankfurt der Jetztzeit und dem eingeholt werden von Taten der Vergangenheit .  In gut 45 Minuten entführt der Autor so die Zuhörer*innen teils in deren eigene Vergangenheit und Erinnerungen der 80er Jahre ,  als auch der spannenden Auflösung  der ,  wie bei Schwob üblich ,  nicht zu blutigen Kriminalgeschichte mit mehr psychologischem Hintergrund und den Beweggründen und Beziehungen der handelnden Personen des Romans .  Wer wissen will wie die Geschichte ausgeht muss ,  wie sich das ja schließlich nach einer Lesung auch gehört ,  das Buch aber selbst zu Ende lesen .

Nach einer 15 minütigen Pause geht es dann anschließend mit dem Aachen – Krimi  ” Königserbe ”  ( Gmeiner Verlag )  von Dieter Stiewi aus dem Jahr 2013 weiter .  Eingeleitet durch ein Kapitel des geschichtlichen Hintergrundes  (  8. Jahrhundert  –  Karl Der Große gegen Wittekind )  zur Kriminalgeschichte ,  führt der Autor in ruhiger und gespannter Stimmung immer wieder durch kleine Ansagen und Erklärungen durch die Geschichte von  ” Mythen ” ,  Aberglauben ,  polizeilicher Arbeit ,  Verfolgungen und brutalen Morden .  Das man am Schluss unbedingt wissen möchte wie die Geschichte endet und man hierzu den Roman selbst lesen soll / muss ,  ist der Lesung durch den Autor zu verdanken 😉 .  Nach den Lesungen stehen die beiden Autoren dann natürlich für Autogramme und Widmungen in ihren Büchern den Krimifreund*innen zur Verfügung und kommen dieser Aufgabe sehr gerne nach .  Es wird gefachsimpelt ,  gebabbelt und mit viel Zeit gemütlich den Abend ausklingen lassen .  So soll das sein und läutet ,  trotz kriminalistischem Hintergrund und Morden ,  die Vorweihnachtszeit stimmungsvoll ,  entspannt und gemütlich ein .  Herbst – Winter ist einfach  ( Vor – )  Lesezeit und ein solcher Abend ergänzt das Ganze hervorragend .

DIE GERADE LINIE FÜHRT ZUM UNTERGANG

Laudatio anlässlich der Vernissage von Christine K. Krämer im Stadtmuseum am 24. März 2023.

Anlässlich seiner ersten Ausstellung in Paris 1954 schrieb Friedensreich Hundertwasser:

„Ich wage zu sagen, dass die Linie, die ich mit meinen Füßen ziehe, um ins Museum zu gehen, wichtiger ist als die Linien, die man innen im Museum auf Bildern aufhängt, vorfindet. Und ich habe eine unendliche Genugtuung, wenn ich sehe, dass diese Linie niemals gerade und niemals wirr ist, sondern dass sie ihre Berechtigung hat, so zu sein, wie sie ist, in jedem kleinsten Teilabschnitt. Hütet euch vor der geraden und vor der betrunkenen Linie. Aber besonders vor der geraden Linie. Die gerade Linie führt zum Untergang der Menschheit.“

Als ich mich vor einigen Wochen mit Christine Katharina Krämer über ihre Ausstellung hier im Stadtmuseum unterhielt, sagte sie, eher nebenbei, aber doch ganz entschieden: „Es gibt nicht eine gerade Linie in meinen Bildern.“

Ich bezweifle, dass sie dabei Hundertwassers Diktum von der „geraden Linie“ im Sinn hatte und ich glaube auch nicht, dass sich Christine Katharina Krämer jedes Mal, bevor sie die Arbeit an einem Bild beginnt, wie ein Mantra aufsagt: „Ich darf jetzt um Gotteswillen keine geraden Linien malen“ – noch glaube ich, dass Hundertwasser das je getan hat. Es scheint mir viel mehr so zu sein, dass der künstlerische Schaffensprozess die gerade Linie hier vielleicht von vornherein ausschließt. Warum das so ist, ist dem Künstler selbst oft überhaupt nicht zugänglich.

Denn bei der Erschaffung eines Kunstwerks, egal welcher Art, spielt das Unter- und das Unbewusste immer eine wichtige Rolle, Sigmund Freud meinte sogar, die entscheidende Rolle. Das Kunstwerk kann also mehr über den Urheber erzählen, als der Urheber über das Werk.  Daher kommt es übrigens auch, dass der Künstler selbst nicht immer automatisch auch der beste Interpret seines eigenen Werkes ist, weil ihm nämlich die tieferen Quellen, aus denen er schöpft, gar nicht bewusst sind.

Von dem französischen Maler Georges Braque stammt die Feststellung:  “Man muss sich mit dem Entdecken begnügen und auf das Erklären verzichten. In der Kunst zählt nur eines: das, was man nicht erklären kann.“

Ich weiß, dass das immer wieder Menschen frustriert, die ratlos vor einem Bild, einer Skulptur, auch vor einem Stück Literatur oder Musik stehen und fragen: Was soll das alles sein? Was bedeutet das? Und sich dann eben eine Erklärung wünschen, nur: Ein Kunstwerk, das von seinem Urheber komplett auserklärt und gedeutet werden kann, hört im Grunde genommen auf, überhaupt Kunst zu sein. Denn Kunst lebt immer von Interpretationsspielräumen, von Widersprüchen, Ambivalenzen, ja sogar vom Nichtverstehen, vom Rätselhaften.

Deshalb gibt es ja auch viele bildende Künstler, die sich der Erklärung ihres eigenen Werks sowieso komplett verweigern.

Nun sind wir als Menschen aber auch soziale Wesen und aufeinander bezogen und wenn wir ein Bild ansehen, denken wir auch an die Person, die es hervorgebracht hat und versuchen, diese Person in Bezug zu ihrem Werk zu setzen. Hier ist es dann erfreulich, wenn man auf eine Künstlerin wie Christine Krämer trifft, die Auskunft gibt über ihre Kunst und ihren Schaffensprozess.

Jeder Künstler benötigt ein gewisses Quantum an Sensibilität. Bei Christine kommt allerdings noch ihre synästhetische Wahrnehmung hinzu, die sich auf den Schaffensprozess auswirkt. Synästhesie heißt, dass nicht nur eine erhöhte Empfänglichkeit für Sinnesreize gegeben ist, sondern diese sich auch gegenseitig durchdringen, so verbinden sich bestimmte Menschen mit bestimmten Farben, auch Töne und Geräusche werden als Farbtöne wahrgenommen – für eine bildende Künstlerin eine denkbar interessante Disposition, die wohl aber auch nicht immer nur angenehm ist.

Denn auch die erhöhte Wahrnehmung und Spiegelung starker Emotionen und ihrer Verarbeitung gehören zur Synästhesie – vielleicht denken Sie mal daran, wenn sie nachher die Porträtzeichnungen der Serie „Pulse 365“ betrachten, das sind die 365 Prominentenporträts.

2013 hat Christine sehr ausführlich in einem Vortrag dargestellt, dass es bei der Betrachtung ihrer Bilder gerade nicht wichtig ist, was sie sich dabei gedacht hat, sondern was der Betrachter darin sieht. Sie lässt uns teilhaben an ihren Inspirationen, die weit über das Feld der bildenden Kunst hinausgehen: Musik und Literatur, Fotografie und Film, seien hier nur als Beispiele genannt. Aus diesem vielfältigen Zusammenspiel, aus bewussten und unbewussten Vorgängen, entstehen Ihre Bilder, Zeichnungen, Fotografien.

Ihren eigenen künstlerischen Anspruch an ein Bild hat Christine in ihrem bereits erwähnten Vortrag so beschrieben:

„Wenn ich z.B. eine Tänzerin male, dann male ich nicht nur das, was sie anhat, sondern verschmelze die Umgebung mit ihr – so dass sie Mittelpunkt meines Gefühls, und im Ausdruck Mittelpunkt meines Bildes wird. So spielt auch die Bewegung hier eine große Rolle- auch wenn das Bild statisch ist, versuche ich, es so darzustellen, dass nicht nur die Tänzerin, sondern das gesamte Bild tanzt.“

Ein Bild zum Tanzen zu bringen, was für ein schöner Gedanke! Aber auch kein geringer künstlerischer Anspruch. Dieser Anspruch zeigt aber auch, das große Zutrauen in die Möglichkeiten der Kunst. Und er verrät etwas darüber, was in der Malerei seit dem Impressionismus alles möglich ist.

Nur eines bleibt dabei im Werk Christine Krämers weitgehend ausgeschlossen: Die gerade Linie.

Abschließend möchte ich noch einen Aspekt betonen, der sich aus dem zuvor Gesagten zwangsläufig ergibt: Kunst kann immer nur dann wirken, wenn sie Rezipienten findet. Bücher müssen gelesen, Musik muss gehört und Bilder müssen betrachtet werden, um eine Wirkung zu entfalten. Ohne einen aktiven Rezipienten bleibt jedes Kunstwerk stumm.

Das meinte wohl auch der britische Popmusiker und Produzent Brian Eno mit seiner Feststellung:  “Saying that cultural objects have value is like saying that telephones have conversations.”

Also in etwa: Wenn man behauptet, Kunstwerke hätten einen Wert an sich, könnte man ebenso gut behaupten, Telefone würden Gespräche führen.

Es bedarf des Betrachters, der sich auf das Kunstwerk einlässt, der es sich immer wieder von Neuem erschließt. Und dabei wünsche ich Ihnen allen viel Vergnügen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Großer Lauschangriff

 

„Das Ohr – Ein Märchen für Erwachsene und solche, die es werden wollen“, so lautet der komplette Titel des neuen Buchs von Paul-Hermann Gruner, in dem er den kleinen Paul auf einer Lichtung ein Ohr finden und, um es zu beschützen, mit nach Hause nehmen lässt. Er redet mit dem Ohr und wundert sich nicht, dass es nicht antwortet, denn Ohren haben natürlich keine Münder …

Gruner bettet seine Geschichte in skurrile Episoden ein, wir erfahren von Ohrenplantagen auf Madagaskar und lernen Pauls Lehrer kennen, einen nachdenklichen Mann, der lieber Fragen stellt als Antworten gibt und sprachliche Ausdrücke ständig auf ihren Wahrheitsgehalt hin abklopft.  Weil Paul in das Wort „instinktiv“ immerzu ein zusätzliches „i“ (instinkitiv) mogelt, ermahnt er ihn: „Werfe mit den kleinen i nicht so um dich. Später gehen sie dir dann vielleicht aus, und du hast Problem beim Sprechen. Dann musst du ogottogott sagen, weil igittigitt nicht mehr geht.“

Es sind nicht zuletzt derlei sprachfindige Beobachtungen, die das Buch zu einem außerordentlichen Lesevergnügen machen.

Pauls sprachfindiger Lehrer hilft ihm auch am Ende, das Ohr wieder dorthin zu bringen, wo es hingehört, nämlich genau da, wo Paul es gefunden hat. Es handelt sich nämlich offenbar um ein Ohr, dessen Aufgabe es ist, das Gras wachsen zu hören.

Dass es sich bei der Erzählung um ein Märchen für Erwachsene handelt, merkt man spätestens auf den Seiten 21-25, weil dort ein Traum geschildert wird, der das ohnehin schon verschrobene Geschehen auf eine Metaebene hebt, die eher an Kafka als an die Brüder Grimm denken lässt.

Nicht unerwähnt bleiben darf, dass das Buch von Nicola Koch kongenial illustriert wurde, ihre Bilder von Ohrenbäumen (oder Baumohren?) spiegeln Gruners sprachlichen Duktus auf ganz hervorragende Weise. Das Buch, in dem ein Ohr im Mittelpunkt steht, ist also auch Augenschmaus.

PH Gruner / Nicola Koch: Das Ohr. Ein Märchen für Erwachsene und solche, die es werden wollen. Justus von Liebig Verlag Darmstadt. ISBN 9783873904743. € 24,80

 

Und das sind die Nominierten für die ersten drei Preisträger*innen (alphabetisch geordnet):
Dr. Hüttenberger, Michael 64720 Michelstadt Weinbrunnenfest
Rödle, Markus 69509 Mörlenbach Stechgroschen
Schwob, Ralf 64521 Groß-Gerau Alte Wunden

Nach öffentlicher Lesung der Beiträge, entscheidet das Publikum über die Platzvergabe 1-3!

Eintrittskarten für die

Krimi-Preisverleihung am

Freitag, dem 26. August 2022, 19.30 Uhr,

in der Werner-Borchers-Halle in der Kreisstadt Erbach

können ab sofort erhältlich beim Kulturmanagement des Odenwaldkreises, Michelstädter Str. 12, 64711 Erbach,

Telefon: 06062 70-217 oder E-Mail: u.naas@odenwaldkreis.de

“Außergewöhnlich schnell wird man in das spannende Geschehen hineingezogen. Zunächst liegt das an der wunderbar leicht lesbaren Sprache des 1966 geborenen Autors. Jedoch beeindruckt vor allem, mit welcher Sorgfalt er seine Figuren beschreibt (…) Wenn Ralf Schwob deren Handlungen immer wieder aus jeweils verschiedenen und damit reizvollen Perspektiven beschreibt, rücken diese einem doch sehr nah. Sie werden greifbar (…) Ohne auf die großen Spannungsmomente des intelligent konstruierten Krimis zu verzichten, erfährt man viel Aufwühlendes, Beängstigendes und Verstörendes über den Menschen an sich.”  Frankfurter Rundschau, 18. Dezember 2021, Thomas Ungeheuer

„Der flüssige Schreibstil ist leicht zu lesen und die Spannung hält bis zum Schluss, da Wendungen immer wieder für Abwechslung sorgen.“  ekz.bibliotheksservice, C. Eggert

„Der Leser ist sofort dicht dabei und eng an den starken Figuren mit tiefem Hintergrund. Schwob ist es wichtig, dass seine Protagonisten nicht farblos und austauschbar sind und dass nicht etwa mehr oder weniger beliebige Figuren in eine vorgedachte Geschichte gestellt werden, sondern dass die Geschichte sich auch aus dem Hintergrund und der Persönlichkeit der Figuren heraus entwickelt.“  Frankfurter Neue Presse, Michelle Spillner, 7. Dezember 2021

“Das ” Präsidium ” ist ein toller Krimi , der den Leser in die Abgründe menschlichen Versagens führt. Habgier, Missgunst und Neid spielen dabei eine große Rolle. Ein Familiendrama das tief blicken lässt und den Leser gruseln lässt. Wie tief können Menschen sinken und anderen Leid antun? Es bleibt spannend …” Babsi123 auf Lovely Books

“Ich mag Krimis aus meiner Heimat sehr. Das Präsidium bietet dem Leser spannende Wendungen an, sowie ein tolles Katz- und Mausspiel. Die einzelnen Handlungsorte und Charaktere wurden mit viel Liebe zum Detail beschrieben. Ralf Schwob ist ein toller Frankfurtkrimi gelungen. Sehr lesenswert.” Elfriede Kohlhase auf Lovely Books

“Frankfurt als Weltstadt brilliert in diesem Buch vor allem mit Orten, die touristisch nur bedingt interessant sind. Das Thema Urbexing wird aufgegriffen – und beim Lesen hat man tatsächlich das Gefühl, das alte Präsidium zu besichtigen, wenn Maik in seinem Versteck unterwegs ist.” Textgemeinschaft auf Lovely Books

©Michelle Spillner für Text und Foto. Übernahme mit freundlicher Genehmigung

 

 

 

Am 22. August konnte ich auf Einladung der Generationenhilfe Büttelborn eine erfolgreiche Lesung im Café Extra abhalten. Unter der Überschrift “Erst die Brötchen dann der Tod” berichtete das Groß Gerauer Echo über die gelungene Frühstücks-Veranstaltung.

Schwer vermittelbar

Über die Bundesrepublik von 1954 bis 1974 und danach gibt es die großen Geschichten – das Wunder von Bern und das der Wirtschaft, die Geschichte einer Wiederaufrüstung und ihre konformen, normfamiliengerechten Protagonisten. Und es gibt die anderen Erzählungen, die gerne hinten runter fallen, wenn man tagsüber an Deutschland denkt. Storys über die Zukurzgekommenen und Gehänselten in der Schule und der Schule des Lebens, über die Unterbeachteten und Weggesperrten: die petits récits.

Solche kleinen Geschichten schreibt Ralf Schwob; die Gesellschaft Hessischer Literaturfreunde hat jetzt eine Auswahl seiner Kurzprosa veröffentlicht. Zufällig oder nicht kommen zwei der Texte auf deutsche Fußball-Weltmeistersonntage zu sprechen: 1974 durch die Wahrnehmung eines zunehmend betrunkenen Achtjährigen und 1954 mit Werner Kohlmeyer, einem Verteidiger aus Kaiserslautern, der durch zwei Rettungsaktionen auf der Torlinie des Berner Fußballplatzes den Titel überhaupt erst ins Land holte, ehe auch er der Trunksucht verfällt. „Endspiel“ und „Weltmeister, Hintereingang“, so ihre Titel, sind Köder, auf die eine fußballsozialisierte Leserschaft beißt.

Fußball ist aber nur ein Haken, der an Schwobs ausgeworfener Schnur in den Teich einer generational erlebten jüngeren Vergangenheit fällt.

Die anderthalb Dutzend anderen Erzählungen zeigen ebenfalls, dass Schwob die Kunst von „sprachlicher Ökonomie und Genauigkeit“ beherrscht, die er im Vorwort als Standard setzt (S. 9). In den „Ersten Schritten“, wie er die vordere Hälfte der Storys überschreibt, wird durch das Prisma heranwachsender Figuren erzählt, wie es ist und sich anfühlt, wenn man „als Clown, als Maskottchen oder als Letzter, der beim Sport in die Mannschaft gewählt wurde“ zurechtkommen muss mit allem, was einem zum Outsider macht. Wortgleich führt Schwob zweimal an (S. 46 und 66), was die Wissenschaft ‚sozioökonomischen Hintergrund‘ nennen würde, und was aus Schülerfiguren runde Protagonisten macht. Es sind fast immer pubertierende Jungen, die sich abrackern an noch pubertierenderen Halbstarken oder einem prekären Elternhaus, für das weder die Altvorderen noch die Jungs groß was können. Mit feiner Klinge legen die Storys die Verwerfungen bloß, die sich in zehn Meter Höhe auf einem Schwimmbadsprungbrett oder am wochenendigen Vatertag abspielen, wenn der spielsüchtige Papa alles verzockt, vom geplanten Stadionbesuch bis zum Urvertrauen des Sohns. Meistens bleiben sie nicht trostlos, immerhin, weil es im feinen psychologischen Adoleszenzgespinst dann doch eine Nadja oder Jenny gibt, die Reife beweist als tatkräftige Jungen-Versteherin.

Erste Schritte sind das alles keine, was die Kunstfertigkeit von Ralf Schwob angeht. In den besten Momenten blitzen Bilder auf, in die man sich versenken kann, weil sie Atmosphären und Gestimmtheiten der Figuren auf den Punkt bringen. Nie wird es zu viel des Guten oder manieriert, und trotzdem hat es die Kraft frischer Metaphern, wenn bei einem Unfall die Welt in viele kleine Teile zerfällt und „von der Windschutzscheibe perlt. Autoglas splittert nicht, es hängt vielmehr in unsichtbaren Fäden in den Baumkronen vor dem Eierschalenhimmel und zerbirst nur allmählich in kleinen und großen Kontinenten auf dem Kopfsteinpflaster“ (S. 38). Auch die Architektur der Geschichten – der Spannungsbogen samt Dénouement – sitzt zumeist.

Nicht alle Storys des ersten Teils sind fokalisiert durch junge Figuren, so wie nicht alle Erzählungen des zweiten Teils („Letzte Wege“) geschildert werden aus der Sicht von denen, die ihre letzte Wege gehen. „Ehrenfels“ heißt eine Story von 2006, die man mit dementem Leserblick besonders gut auskosten kann, weil bei dem, was gerade in der erzählten Zeit dargestellt wurde, im Jetzt der Erzählzeit schon wieder alles vergessen ist: die Wahrnehmung der lebenserfahrenen Alt- und Ältergewordenen. Umgekehrt hat in Teil 2 ein Zivildienstleistender die Perspektive inne mit seinem Rückblick auf die Erfahrungen in der von der Bundesrepublik der 1980er Jahre aufbefohlenen Altenpflege. Auch hier sind die Bilder – und ist die Schreibweise – unprätentiös, aber einfach gut. Die Kleinkinder sind „wirtschaftswunderdick“ auf den stibitzten Fotos der alten Patienten, die ihre guten alten Zeiten festhalten, während sie selbst, vom namenlosen Zivi betreut, im gnadenlos fortschreitenden Fluss der Zeit altern: „ihre Unterarme fühlen sich an wie gekochte Hühnerbeine“ (S. 85).

In lesekulturindustriell durchgestylten und zudem pandemisch aufgerauten Zeiten ist Erste Schritte, letzte Wege mit seinem leisen Duktus, auf den man sich einzuhören bereit sein muss, vielleicht ‚schwer vermittelbar‘, wie eine Story über einen Regalauffüller im Supermarkt titelt. Das muss man kaufen, dann wird man belohnt. Den fetzigen Serviervorschlägen für „Doseneintöpfe, Markklößchensuppe, Königsbergerklöpse, Mais, Erbsen und Karotten“ (S. 122) setzt Ralf Schob kein famos eingekochtes literarisches Zartgemüse entgegen, sondern frische Bilder- und Schreib-Ware.

Bruno Arich-Gerz

Ralf Schwob: Erste Schritte, letzte Wege. Erzählungen, Justus von Liebig Verlag. Darmstadt 2020
ISBN 978-3-87390-439-2. 14,80 Euro

Link zur Originalseite: http://textem.de/